Jahresbericht der Bahnhofsmission für 2020

Wie allen Beratungseinrichtungen wurde es auch der Bahnhofsmission Hildesheim im Jahr 2020 nicht gerade leicht gemacht, den Kontakt zu Hilfesuchenden herzustellen oder auch aufrecht zu halten. Wie bleibt man in Verbindung, wenn die Begegnung und das Gespräch mit dem Nächsten plötzlich „gefährlich“ sein könnte?

Erst der tiefgreifende Lockdown im Frühjahr, nach der vorsichtigen Öffnung im Mai dann die Um- und Durchsetzung  der Kontaktbeschränkungen, der Abstands- und Hygieneregeln beeinträchtigten und beeinträchtigen nach wie vor die Arbeit der Mitarbeitenden der Bahnhofsmission erheblich. Dies schlägt sich natürlich auch in den Zahlen der Statistik für das Jahr 2020 nieder:

  • 3690 Kontakte zu Hilfesuchenden hat die Bahnhofsmission im Verlauf des Jahres 2020 gezählt. Das sind rund 1000 Kontakte weniger als im Jahr davor (4707 Kontakte). Wegen der Corona-Pandemie war die Einrichtung im Frühjahr 6 Wochen komplett für Publikumsverkehr geschlossen, danach zunächst nur nachmittags geöffnet und erst ab Juni wieder zum „Normalbetrieb“ übergegangen.
  • Von allen Kontakten entfielen nur 632 auf Reisende, also rund 17%. In 116 Fällen leisteten wir konkrete Ein- oder Umstiegshilfe, in drei Fällen wurden Reisende im Nahverkehrszug bis zum Zielbahnhof begleitet, Zusammenarbeit mit oder Vermittlung an andere Bahnhofsmissionen gab es in nur 21 Fällen. Es ist nicht überraschend, dass nur wenige Reisehilfen gefragt waren, da ja seit Beginn der Pandemie allgemein empfohlen wird, von unnötigen Reisen abzusehen. Gerade die Risikogruppen, also jene im höheren Alter oder mit Vorerkrankungen und Beeinträchtigungen sollen möglichst zuhause bleiben. Dies sind aber auch diejenigen, die sonst gerne eine Reisehilfe in Anspruch nehmen und sich an die Bahnhofsmission wenden.
  • Die meisten Kontakte finden nach wie vor im Gastraum der Bahnhofsmission an Gleis zwei statt. 2984 Menschen hielten sich dort auf, suchten das Gespräch, fragten um Rat oder materielle Unterstützung (201mal) nach, benötigten Beratung oder ein seelsorgerisches Gespräch (72 mal). In 116 Fällen stellten wir Kontakt zu anderen Beratungsstellen her oder vermittelten Hilfesuchende an Fachstellen weiter.
  • 2062 Menschen, das sind 55% aller Hilfesuchenden wendeten sich an uns in besonderen sozialen Schwierigkeiten, 15% haben zudem finanzielle Probleme.
  • 44 % der Gäste leiden unter einer psychischen Erkrankung, häufig gekoppelt mit  einer Suchterkrankung. Von diesen wiederum sind 85%,  männlich. Dies ist seit Jahren ziemlich unverändert.
  • Bahnhofsmissionen sind aber nicht nur erste Anlaufstellen für Menschen mit sozialen oder psychischen Schwierigkeiten, sondern werden auch gerne als sicherer Ort von Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung aufgesucht. Dies waren 14 % aller Hilfesuchenden.

Zusammenfassend kann man sagen, dass zwar die absolute Anzahl der Kontakte zur Bahnhofsmission im vergangenen Jahr pandemiebedingt zurückgegangen ist, aber die Verteilung auf die unterschiedlichen Problemlagen innerhalb der Gruppe von Menschen, die Hilfe suchten, blieb nahezu gleich.

Das Team der Mitarbeitenden

Bis September 2020 bestand das Team der Bahnhofsmission aus zwei Hauptamtlichen sowie 8 Ehrenamtlichen.
Ende August lief das auf drei Jahre angelegte Projekt „Lernort Bahnhof“ aus und damit auch die Finanzierung der dazu gehörenden halben Stelle für die Projektumsetzung. Da es keine Aussicht auf Anschlussfinanzierung für die 20 Wochenstunden gab, musste die Stelleninhaberin das Team leider verlassen. Dennoch ist es gelungen, die Öffnungszeiten weiterhin in gleichem Umfang aufrechtzuerhalten. Im Laufe des Jahres 2020 konnten zudem 4 neue Ehrenamtliche in das Team aufgenommen werden. Die Integration der „Neuen“ in das bestehende Team ist allerdings erschwert, da sich nicht alle begegnen können und sollen, Dienstbesprechungen in großer Runde finden derzeit nicht statt.
Bis auf wenige Ausnahmen kamen alle Ehrenamtlichen trotz der sich verschärfenden Infektionslage im Herbst und der nicht völlig auszuschließenden Ansteckungsgefahr während des Dienstes weiterhin gerne in die Bahnhofsmission aus dem Gefühl heraus, dass sie hier gebraucht werden. In einer schriftlichen Vereinbarung mit dem Diakonischen Werk erklärten sich alle mit der Einhaltung der bestehenden Hygieneregeln einverstanden und versicherten, dass sie aus freien Stücken hier arbeiten und die damit verbundenen Risiken in Kauf nehmen.


Öffentlichkeitsarbeit

Bedingt durch die Corona-Pandemie entfielen die klassischen Termine und Anlässe, an denen sich die Arbeit der Bahnhofsmission einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert, nahezu komplett. Anfang März besuchte die Leiterin zum ersten und zugleich letzten Mal für dieses Jahr eine Kirchengemeinde, um dort einen Vortrag über die Aufgaben der Bahnhofsmission zu halten. Alle weiteren Vortragstermine mussten abgesagt werden.
Weder der „Tag der Bahnhofsmission“ im April noch die Weihnachtsandacht am 4. Advent in der Bahnhofshalle konnten stattfinden.
Stattdessen beschränkte sich die Öffentlichkeitsarbeit überwiegend auf kontaktlose Formate:
Seit September hat die Bahnhofsmission Hildesheim einen Instagram-account, auf dem aktuelle Neuigkeiten gepostet werden.
In einer für Heiligabend vorproduzierten Radiosendung im Hildesheimer Regionalsender „Radio Tonkuhle“ durfte die Bahnhofsmission einen Beitrag über ihre vorweihnachtlichen Aktivitäten einsprechen.
 

Aktivitäten

  • Das Jahr 2020 begann mit der Renovierung unserer Räume an Gleis zwei. Auszubildende und MitarbeiterInnen der Abteilung DB Services rückten im Rahmen einer Freiwilligen Aktion mit Farbe und Pinsel an und schenkten der Hildesheimer Bahnhofsmission einen kostenlosen frischen Anstrich der Büro- und Mitarbeiterräume.  Vier Wochen später kam der nächste „Bautrupp“, die Tischlerei des Vereins „Arbeit und Dritte Welt“, die beauftragt war, einen Tresen im Gastraum, später noch ergänzt um einen Spuckschutz, zur besseren Abtrennung zwischen Gast- und Mitarbeiterküche, einzubauen. Finanziert wurde dieser lang gehegte Wunsch mithilfe einer großzügigen Spende vom Rotarier-Club Hildesheim sowie der Sparkasse Hildesheim und der Volksbank Hildesheim.
    Der Tresen war die beste Investition des vergangenen Jahres und kam gerade rechtzeitig zur Corona-Pandemie. Er erleichtert das Distanzhalten zwischen Gästen und Mitarbeitenden. Kaffee und Speisen können kontaktlos am Tresen übergeben werden, der Blickkontakt ist auch durch die Plexiglasscheibe gegeben und Gespräche mit den Gästen sind nach wie vor, aber eben mit sicherem Abstand möglich.
  • Mit der Verhängung des ersten Lockdowns im März 2020 musste die Bahnhofsmission ihren Publikumsbetrieb für 6 Wochen einstellen, alle Ehrenamtlichen wurden nachhause geschickt. Gleichzeitig endete damit auch abrupt und vorzeitig das Projekt „Lernort Bahnhof“, da auch die Schulen, Fachhochschulen und Universitäten schließen mussten. Sämtliche Schulpraktika fielen zunächst bis zu den Sommerferien, letztendlich aber bis Jahresende aus.
  • Bis Anfang Mai war unsere Einrichtung nur noch durch die Hauptamtlichen besetzt, Hilfeanfragen konnten nur noch an der Tür oder telefonisch geklärt werden. Nach der ersten Schockstarre wurde diese Zeit u.a. dafür genutzt, Vorbereitungen zu treffen, um möglichst bald wieder sicher öffnen zu können:
    Erstellung eines Hygienekonzepts, die Anschaffung von Desinfektionsmittel und –spendern für den Gastraum und die Umgestaltung desselben, damit die Abstände zwischen den Gästen gewahrt werden können und Gäste und Mitarbeitende vor Infektionen geschützt bleiben.
  • Als die allgemeine Maskenpflicht im Bahnhof und in Geschäften eingeführt wurde, war schnell deutlich, dass die Bahnhofsmission hier einen neuen Unterstützungsauftrag für Bedürftige haben würde. Viele unserer Gäste haben nicht die finanziellen Ressourcen, um sich regelmäßig Einmal-Masken kaufen zu können. Ebenso fehlt vielen die Gelegenheit, Stoffmasken regelmäßig auszutauschen und zu waschen. Daher startete die Leiterin einen Spendenaufruf im Bekanntenkreis. Mehrere „Hobby-Näherinnen“ sowie die Jugendorganisation „Rotaract“ der Rotarier Hildesheim, nähten in kurzer Zeit ehrenamtlich Stoffmasken für die Bahnhofsmission. Diese wurden und werden bei Bedarf kostenlos an Bedürftige oder auch gegen Spende an Bahnreisende abgegeben.
  • Nahezu alle Fortbildungen und Grundkurse für haupt- und ehrenamtlich  Mitarbeitende mussten 2020 leider pandemiebedingt entfallen. Von der Bundesgeschäftsstelle der Bahnhofsmissionen Deutschland ersatzweise angebotene online-Formate ersetzen die „echten“ Treffen und den Austausch nur begrenzt. Bei einigen Ehrenamtlichen fehlt es auch an der nötigen technischen Ausstattung, um an Zoom-Konferenzen teilzunehmen.
    Immerhin konnte das Team aber im Spätsommer an einem Kurs zu Alltagsrassismus mit Argumentationstraining teilnehmen. Rassistische Äußerungen und Denkmuster begegnen uns im Alltag der Bahnhofsmission häufig. Verteilungsungerechtigkeiten um knappe Güter wie bezahlbarer Wohnraum, finanzielle und materielle Unterstützung für Bedürftige, werden am Rand des Existenzminimums besonders deutlich wahrgenommen und führen schnell zu Neid und Missgunst gegenüber „den Flüchtlingen/ Ausländern“, denen angeblich viel mehr geholfen wird. Es ist gut und wichtig für die Mitarbeitenden, sich mit solchen Standpunkten auseinanderzusetzen, um adäquat reagieren zu können.
     

Ausblick

  • Auch wenn die Bahnhofsmission und ihr Team bislang gut und ohne Infektionen durch die Coronapandemie gekommen ist, wird uns das Thema noch viele Monate beschäftigen. Neben den kurzfristigen Auswirkungen durch Hygieneregeln und Abstandsgebote, die viele unserer Gäste nicht zuletzt vor finanzielle Herausforderungen stellen (z.B. die Verpflichtung zum Tragen medizinischer Masken) sind es die seelischen Wunden, die die Dauer der strengen Lockdown-Maßnahmen bei vielen Menschen verursachen und die sie auch in unsere Einrichtung tragen. Wir registrieren steigenden (seelsorgerlichen) Gesprächsbedarf: Langeweile und Vereinsamung, Verunsicherung und (Existenz)-Ängste, finanzielle Not, erschwerter Zugang zu Behörden und Beratungseinrichtungen lasten besonders auf denjenigen, die unter normalen Umständen schon Schwierigkeiten haben, ihren Alltag zu bewältigen. Für Menschen, die auf der Straße leben, ist dieser Winter zudem besonders hart, da es nur wenige Orte gibt, die noch offen sind und zum Aufwärmen aufgesucht werden können. Auch in der Bahnhofsmission ist die Verweildauer für Gäste auf 30 Minuten begrenzt und die Zahl der Sitzplätze auf drei reduziert. Oft müssen wir Gäste vertrösten und bitten, später nochmal wieder zu kommen. Das stößt nicht immer auf Verständnis. Die Kälte zehrt spürbar an den Nerven, viele sind schneller gereizt als sonst.
    Die Arbeit wird uns also nicht ausgehen, sondern eher zunehmen. Je länger die Krise andauert, desto mehr Menschen drohen abzurutschen und durch das soziale Netz zu fallen.

Susanne Bräuer, Leitung der Bahnhofsmission