Jahresbericht Familien in Not (FIN) 2023

»Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf«

Dieses bekannte afrikanische Sprichwort will sagen, dass Erziehung und Bildung nicht allein Aufgabe der Eltern ist, sondern von uns allen als Gesellschaft. Neben staatlichen Institutionen wie Schule, Kitas, und Jugendhilfe sind Vereine, Bildungsträger, Wohlfahrtsverbände, politische Parteien, Parlamente, Nachbarschaften und andere zivilgesellschaftliche Gruppen gefordert. FiN sieht sich als einen Akteur von vielen im Gemeinwesen, unser »Dorf« ist die Region, also Städte und Gemeinden im Landkreis Hildesheim.

 

Was bringt Familien, Kinder, Heranwachsende in eine Notlage?

Herr G. hat im Frühjahr seine Partnerin verloren – sie starb ganz plötzlich. Die beiden wollten heiraten, haben eine gemeinsame, schwerbehinderte Tochter, waren dabei ein Haus auszubauen. Für so eine Katastrophe war nicht vorgesorgt: kein Testament, keine Verfügung, keine Absicherung. Herr G. war mit der gesamten Situation überfordert, konnte seiner Berufstätigkeit kaum noch nachgehen. Er suchte eine Anlaufstelle, musste sich austauschen und sortieren, brauchte ganz praktische Informationen und Hilfen, die schnell auf den Weg gebracht wurden.

Ein Ausbildungsbetrieb des FiN-Netzwerks stellte den Kontakt zu einem jungen Mann her. F. kam als minderjähriger Flüchtling allein aus Afghanistan nach Hildesheim, lernte Deutsch und begann die Ausbildung zum Gas- und Wasserinstallateur. Er galt als fleißiger und geschätzter Mitarbeiter – Probleme gab es allerdings in der Berufsschule. Und nachdem er zweimal die theoretische Abschlussprüfung nicht bestand, begannen die Schwierigkeiten: Verdienstausfall, verzögerte Leistungsgewährung und dadurch bedingt Miet- und Energieschulden, Depressionen im Kontext mit einer PTBS, schlechte Nachrichten von der Familie in der Heimat, Rückzug, ungeöffnete Post, Energiesperre… Mit viel Geduld und in Kooperation mit der Schuldnerberatung konnten wir gemeinsam Stück für Stück abhelfen.

H. ist eine alleinerziehende, ehrgeizige junge Frau. Da sie nur in Münster einen Studienplatz bekam, pendelte sie zwischen Hildesheim und Münster – als alleinerziehende Mutter eine große Belastung. H. leidet zudem an einer Grunderkrankung, die sie einschränkt und immer wieder Kosten für Physiotherapie und Medikamente verursacht. Ein Studienortwechsel nach Hildesheim erforderte ein kompliziertes Aufnahmeverfahren, das eine Härtefallbegründung verlangte und Gebühren kostete – die H. nicht aufbringen konnte. Über die Migrationsberatungsstelle wurde der Kontakt zu FiN hergestellt und Unterstützung ermöglicht.

Dies sind nur drei Beispiele aus der Beratung von FiN im vergangenen Jahr, beispielhaft für 123 Familien oder Personen, die sich an FiN gewandt haben. 71 dieser 123 Anfragen wurden von Dritten vermittelt: u.a. von anderen Beratungsstellen, Behörden, Kitas, Jugendhilfeträgern oder vom Frauenhaus. 75% der Ratsuchenden sind Frauen, meist alleinerziehend

Die Anlässe bzw. Lebenslagen, die zur Kontaktaufnahme führen sind

  • Trennung und Verlust: Tod eines Elternteils, Tod eines Kindes, Scheidung der Eltern – einhergehend mit familiären und finanziellen Belastungen, Probleme bei der Ausübung der el-terlichen Sorge, des Umgangs, Unterhaltsstreitigkeiten
  • Krankheit oder Behinderung von Kindern oder Eltern: Kosten für Medikamente, Hilfsmittel, besondere Anschaffungen, Therapien, Beratung zu Leistungsansprüchen und Vermittlung weiterführender Hilfen
  • Schule, Berufsausbildung, Studium: zahlreiche Anfragen betreffen die Themen Schulstart, Neuausstattung mit Schulmaterial nach Zuzug aus einer anderen Region, Beginn oder Wechsel von Ausbildung oder Studium, Gebühren, Fahrtkosten, Grundausstat-tung, Überbrückungsleistungen
  • Schwangerschaft und Geburt: Früh- oder Mehrlingsgeburten mit den besonderen Bedarfen, Babyerstausstattung, Beratung und Unterstützung insbesondere für junge Mütter oder Eltern
  • Erhöhte Strom- und Heizkosten: 2023 schlugen die hohen Energie- und Lebenshaltungskosten zu Buche – spürbar u.a. bei den Nebenkostenabrechnungen oder bei Einkäufen. Energiesperren waren oft angedroht oder bereits vollzogen
  • Bildung & Teilhabe: Finanzierung von Kursgebühren, Sportausstattung, Kinderfreizeiten oder Familienurlaub
  • Und immer wieder: ​nicht geregelte Übergangssituationen, Zuständigkeitsablehnung von Kostenträgern, lange Bearbeitungszeiten bei Kostenträgern, Verschwinden von Unterlagen, Nichterreichbarkeit von behördlichen Stellen… Hier unterstützen wir, vermitteln und helfen durch Überbrückungsleistungen ab.

 

Das »Dorf« hat eine Stimme

»Kein Kind soll verloren gehen« ist Leitgedanke unseres professionellen Handelns. Oder wie es im Kinder- und Jugendhilfegesetz in § 1, Abs. 1 SGB VIII heißt: »Jeder junge Mensch hat das Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.« Es ist unbestritten, dass ein unbeschwertes Aufwachsen, Bildung und Teilhabe nicht nur Grundrechte sind, sondern die wichtigsten Voraussetzungen, um Armut und soziales Abseits zu verhindern. Die gesetzlichen Leistungen z.B. für Bildung und Teilhabe sind allerdings nicht bedarfsdeckend, der Verwaltungsaufwand ist hoch und kommt nicht bei allen Familien an. Teilhabeleistungen reichen nicht für die Förderung von Talenten im musischen oder sportlichen Bereich und vom sozialen Miteinander (z.B. beim Kindergeburtstag) sind viele Kinder ausgegrenzt. Eine bedarfsdeckende Kindergrundsicherung und Lernmittelfreiheit werden von den Sozialver- bänden seit langem gefordert.

Darum haben wir im Landkreis Hildesheim einen Runden Tisch Kinderarmut mit initiiert und setzen uns mit Vertreter*innen von Verwaltung, Politik und Verbänden dafür ein, Kinderarmut und Folgen von Mangellagen auf kommunaler Ebene zu bekämpfen.

Wie in den vergangenen Jahren gibt es bei FiN zahlreiche Anfragen bezüglich finanzieller Unterstützung für Schulmaterial, Grundausstattung zur Einschulung oder Schulwechsel, für Notebooks und Tablets. Der Runde Tisch Kinderarmut setzt sich dafür ein, dass zur Einschulung in die erste Klasse Familien mit geringem Einkommen mit jeweils 100 Euro unterstützt werden können. Über den Sozialfonds Hildesheim konnten 2023 allein in den Beratungsstellen des Diakonischen Werkes Hilfen für 165 Familien ausgezahlt werden.

Das Diakonische Werk Hildesheim hatte 2023 aus der Spendenaktion des NDR »Hand in Hand für Norddeutschland« Projektmittel für das Projekt Glücksmomente für Familien in Not erhalten. So konnten besonders belastete Eltern mit ihren Kindern unbeschwerte gemeinsame Zeit im Schwimmbad, im Kino oder in einem Freizeitpark verleben.

 

Unser »Dorf« ist ein Netzwerk

Beratungsstellen

FiN ist für Familien – aber auch für Institutionen, die ihrerseits Familien begleiten – oft eine erste Anlaufstelle in einer Krise oder Notlage. Hier wird genau zugehört und analysiert was erforderlich ist, mit welcher Priorität Hilfen eingeleitet werden müssen, wer beteiligt oder an wen vermittelt werden sollte. An dieser Stelle kommt das Netzwerk verschiedener Beratungsstellen und Dienste zum Einsatz: die Fachstellen des Diakonischen Werkes und anderer Dienste, staatliche Sozialleistungsträger und freie Träger wie beispielsweise fördernde Stiftungen.

Ehrenamt

Wir bieten Interessierten die Möglichkeit eines ehrenamtlichen Engagements im Rahmen der Begleitung von Familien in Not. Hierbei handelt es sich meist um Aufgaben der Alltags- entlastung und Kinderbetreuung. 2023 haben wir zahlreiche Interessenbekundungen erhal- ten, leider entsprachen die Angebote freiwilliger Laienhilfe oftmals nicht den Bedarfslagen der beratenen Familien.

Die Stiftung Familien in Not Hildesheim

Seit 2011 unterstützt und begleitet die Stiftung Familien in Not Hildesheim die Beratungsarbeit von FiN im Diakonischen Werk Hildesheim. Die Stiftung Familien in Not ist eine unselbständige Stiftung des Ev.-luth. Kirchenkreisverbandes Hildesheim. Sie setzt sich in Zusammenarbeit mit Robert Smietana, dem Fund- raiser des Ev.-luth. Kirchenkreises Hildesheim-Sarstedt, mit Gisela Sowa, der Koordinatorin von FiN, und mit der Verwaltungsstelle des Kirchenamtes Hildesheim für den Fortbestand, die Sicherung und die Ausweitung des Beratungsangebotes von FiN ein. Nach sechs Jahren wechselte der Vorsitzende des Stif- tungsvorstands: Mirko Peisert, ehemaliger Superintendent des Ev.-luth. Kirchenkreises Hildesheim-Sarstedt verabschiedete sich aus diesem Amt. Neuer Vorsitzender ist seit Juni 2023 Thomas Buschjohann, einer der Mitbegründer von FiN im Jahr 2005.

Unterstützer

Das Dorf erweitert sich, das Netzwerk wird größer und stärker! 2023 erhielt FiN vielfältige praktische und finanzielle Unterstützung: Neue, treue, Erst-, Dauer- und Anlassspender- innen und -spender – Privatpersonen ebenso wie Firmen – spendeten in einer, für viele wirtschaftlich schwierigen Zeit, dennoch großzügig und förderten und unterstützen damit die Arbeit von FiN und der Stiftung. Darüber hinaus starteten verschiedene Organisationen ausgesprochen originelle Spendenaktionen für Familien in Not:

Der Internationale Chor Hildesheim sammelte unter dem Motto Hildesheim spendet Wärme »nicht benötigte Energiepauschalen« für Menschen in wirtschaftlicher Not. Die Söhlder Fastnachtsfrauen baten zur Weiberfastnacht 2023 die Söhlder Dorfbewohnerinnen und -bewohner um Spenden für FiN. Der Erlös des Sommerfestes des Beamtenwohnungs- vereins Hildesheim eG ging zur Hälfte an Familien in Not. Der Ortsverein Hildesheim des Formermeister-Bundes spendete anlässlich seiner Auflösung sein Restguthaben. Der Lions Club Hildesheim-Rose veranstaltete im September im Rahmen eines Pup-Up-Stores in den ehemaligen Geschäftsräumen von Foto Storm in der Hildesheimer Innenstadt eine einwöchige Schallplattenbörse: Rund 6.000 gespendete Platten wurden angeboten – und ein Großteil davon zugunsten von Familien in Not verkauft.

Bei allen Herausforderungen, die diese Zeit mit sich bringt, freuen wir uns über jede Form der praktischen Hilfe und finanziellen Unterstützung für Familien in Not und danken allen Unterstützerinnen und Unterstützern von Herzen – denn: »Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf«.

Gisela Sowa (Koordinatorin FiN), Hildesheim, im Februar 2024